Fantasy,  Geschichten

Nicht Ihr Vater – Teil 2

Thorwen wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber er spürte plötzlich die charakteristische und sehr vertraute Präsenz seines Bruders.

Thorwen lächelte und versuchte erneut aufzustehen. Dieses Mal schwankte er nicht mehr. Die letzten Nachwirkungen des Beruhigungsmittels waren endlich verklungen.

Er warf einen nachdenklichen Blick auf das schlummernde Kind. Sein erster Instinkt war, sie zu wecken, aber die weichere und weniger pragmatische Seite in ihm entschied, dass es gnädiger wäre, sie noch ein wenig länger ruhen zu lassen.

Thorwen bückte sich und hob sie behutsam in seine Arme. Er wickelte seinen Mantel um sie, bis nur noch der Scheitel zu sehen war, und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang.

Vor der Höhle wimmelte es nur so von seinen Clanmitgliedern.

Ein Dutzend Fackeln erhellte die dunkle Nacht.

Thorwen ließ seine Aura aufflackern und spürte, wie die seines Bruders begeistert antwortete.

Aus den Bäumen trat eine Gestalt hervor und stürmte auf ihn zu. Das Gesicht seines Bruders war von tiefer Sorge gezeichnet, und Helion Myrat näherte sich ihm mit schnellen, eiligen Schritten. „Bruder! Gott sei Dank, dass wir dich gefunden haben. Ich war sehr besorgt, als deine Einheit ohne dich zurückkehrte. Für einen Augenblick befürchtete ich, ich hätte dich verloren.“

„Ich sterbe nicht so leicht, Bruder“, antwortete Thorwen und schenkte seinem älteren Bruder ein warmes Lächeln. Er war wirklich glücklich, ihn zu sehen. „Ich würde dich umarmen, aber im Moment habe ich die Hände voll.“

„Das sehe ich.“ Helion blickte neugierig auf seine Fracht und seine Augen weiteten sich, als er den Kopf sah, der aus dem Mantel ragte. „Ist das ein Kind?“

„Nicht hier“, erwiderte Thorwen schnell, „ich werde dir alles berichten, sobald wir zurückgekehrt sind. Habt ihr die übrigen Angreifer gefunden?“

„Wir haben einen gefangen genommen und zwei getötet. Wir werden ihn später verhören“, antwortete Helion und klopfte ihm auf die Schulter. „Es ist eine große Erleichterung, dich heil zurückzuhaben, kleiner Bruder.“

Er drehte sich zu seinen Clanmitgliedern um. „Wir gehen zurück!“


Thorwen wusste, dass Helion vor Neugierde fast starb, und so war er nicht überrascht, als sein Bruder ihm in das Studierzimmer folgte.

„Also gut“, begann Helion, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, „ich war jetzt lange genug geduldig. Wer ist das Kind? Und benötigst du medizinische Versorgung? Ach, warum frage ich überhaupt. Du wirst es ohnehin leugnen. Ich werde dich einfach untersuchen, während du mir berichtest.“

Thorwens Lippen zuckten und er legte das Mädchen auf dem Bett ab, das Helion sonst gerne nutzte, wenn er mal wieder bis tief in die Nacht über Strategieplänen gesessen hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass das Kind die ganze Zeit über geschlafen hatte. Sie musste wirklich erschöpft gewesen sein.

Helion trat neben ihn und Thorwen schlug den Mantel leicht zurück, damit sein Bruder das Gesicht sehen konnte.

Helion atmete scharf ein, als er die Gesichtszüge erkannte, und seine Miene wurde schlagartig ernst. „Thorwen, ich brauche diese Erklärung dringend. Also, setz dich, lass mich dich ansehen und fang an zu reden.“

Thorwen seufzte und fügte sich.

Helion hörte schweigend zu, während er sich vom Wohlergehen seines Bruders überzeugte.

Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck verwandelte sich langsam in ein überraschtes, aber erfreutes Lächeln, je weiter Thorwen mit seiner Erklärung kam.

Er beendete seine Untersuchung, um seinen Bruder in die Arme zu schließen und ihn fest zu umarmen. „Ich bin stolz auf dich, kleiner Bruder. Es war die richtige Entscheidung, das Kind zu verschonen.“

Helion grinste breit, als Thorwen ihn zurück umarmte.

Sie teilten einen langen Moment, ehe Helion die Umarmung löste und sein Gesicht wieder ernst wurde. „Ich befürchte, wir befinden uns jetzt in einem ziemlichen Dilemma. Wir müssen sie dem Uluwayt Clan zurückgeben. Aber das können wir später besprechen. Es ist bereits spät und wir sollten uns ausruhen. Ich werde heute Nacht hierbleiben, um ein Auge auf sie zu werfen.“

Thorwen seufzte erleichtert. „Danke, Bruder. Falls sie aufwacht, bevor ich zurück bin …“

„Dann werde ich mein Bestes tun, sie nicht zu verängstigen“, antwortete Helion. Seine Augen funkelten amüsiert.

„Genau das ist es, was mir Sorgen bereitet“, murmelte Thorwen und schloss die Tür hinter sich.

Helion sah ihm hinterher und schüttelte belustigt den Kopf. Er hätte nie gedacht, dass sich sein Bruder einmal Sorgen um ein Kind machen würde.

Er wandte sich um und musterte das besagte Kind. Im Laufe ihres Gesprächs hatte sie sich tiefer in den Pelzmantel verkrochen und war nun nahezu unter dem schweren Stoff verschwunden.

Helion lächelte, aber seine fröhliche Stimmung verflog augenblicklich, als ihm wieder einfiel, wie es um die Beziehungen zwischen ihren Clans stand.

Helion nippte gerade gemütlich an seinem Tee, als ein leises Geräusch ihm signalisierte, dass das Kind langsam erwachte.

Helion stellte die Tasse ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen.

Er beobachtete stumm, wie ihr verwirrter Blick durch die Kammer wanderte und schließlich auf ihn fiel.

Ein Anflug von Angst huschte über ihr Gesicht, doch Helion begegnete ihrem erschrockenen Blick mit der ihm eigenen Ruhe.

Einen Moment lang betrachtete er einfach nur das junge, verängstigte Gesicht und die Art und Weise, wie sich ihre schwarzen Augen auf ihn konzentrierten und ihn mit der erschrockenen Aufmerksamkeit ansahen, die eine Beute einem Raubtier widmete.

Dann erhob er sich und näherte sich ihr mit langsamen, stetigen Schritten. Das Kind bewegte sich nicht, doch ihre Haltung wurde zunehmend angespannter. Helion fühlte sich vage an ein verängstigtes Tier erinnert, und er bemühte sich, seinen Tonfall völlig neutral zu halten, als er sie begrüßte. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“

Seine Worte schienen sie zu beunruhigen, denn sie senkte plötzlich den Kopf, starrte auf den Mantel und beantwortete seine Frage nur mit einem kaum sichtbaren Nicken.

„Gut.“

Einen Moment lang herrschte eine angespannte Stille, als er über seine nächsten Worte nachdachte. „Mein Bruder ruht sich noch aus. Ich habe angeboten, an seiner statt auf dich achtzugeben.“

Sie erstarrte und ihre kleinen Hände verkrampften sich in dem Mantel. „Geht … geht es ihm gut?“

Die zaghafte Frage ließ Helion beinahe lächeln. Scheinbar war es nicht nur sein Bruder, der eine fragile Zuneigung entwickelt hatte.

„Er wird sich erholen“, antwortete er ruhig.

Ihre Schultern entspannten sich leicht. Helion stellte erfreut fest, dass sie aufrichtig erleichtert zu sein schien.

„Es scheint, ich muss mich bei dir für seine rasche Genesung bedanken“, fuhr er fort, den Blick auf sie gerichtet, aber Bedacht darauf, Abstand zu halten. „Ich habe bereits den Bericht meines Bruders erhalten, aber nun möchte ich gerne hören, was sich aus deiner Sicht zugetragen hat. Würdest du mir ein paar Fragen beantworten?“

Das Mädchen schluckte und nickte stumm mit dem Kopf. Ihr kleiner Körper zuckte auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie mit dem Drang kämpfte, zurückzuweichen.

Es war bestürzend, dass ein Kind so viel Angst vor ihm hatte, dass es sich zwang, stillzuhalten, wenn es so offensichtlich war, dass es am liebsten fliehen würde.

Helion seufzte unmerklich und trat wieder ein paar Schritte zurück. Vielleicht wäre es für das Kind einfacher, wenn er sie einfach reden ließ und anschließend eventuell offene Fragen stellte. „Dann erzähle mir erst einmal, wie du meinen Bruder kennengelernt hast.“


Thorwen fühlte sich wie neugeboren. Er hatte sich gut erholt, und das Bad, das er soeben genommen hatte, hatte hervorragend dazu beigetragen, seine restlichen Kräfte wiederherzustellen. Es tat gut, den Staub, das Blut und den Dreck loszuwerden.

Er kehrte in das Studierzimmer zurück und fand seinen Bruder gegen die Wand gelehnt vor. Helion musterte das verängstigte Mädchen mit nachdenklicher Miene und Thorwen bemerkte, dass er sein Schwert abgelegt hatte. Er verstand sofort, dass Helion versuchte unbedrohlich zu wirken.

Thorwen sah das Kind an. Offensichtlich schien das Mädchen nicht von der Harmlosigkeit seines Bruders überzeugt. Sie wirkte eher wie jemand, der soeben knapp einem Todesurteil entgangen war.

Thorwen verspürte eine entfernte Art von Mitleid. Es musste beängstigend sein, der Gnade zweier erwachsener und feindlich gesinnter Männer ausgeliefert zu sein, die einen mit Leichtigkeit überwältigen konnten.

In diesem Moment klopfte es dreimal kräftig gegen die Tür. „Khán-an Helion? Wir haben Neuigkeiten bezüglich des Gefangenen. Dürfen wir eintreten?“

Thorwen wechselte einen kurzen Blick mit seinem Bruder, doch dieser schüttelte den Kopf. „Warte hier. Ich werde nachsehen, was geschehen ist.“

Helion öffnete die Tür und Thorwen erblickte hinter der Gestalt seines Bruders fünf Clanmitglieder, die einen gefesselten Mann umringten. Thorwen identifizierte ihn als einen der Angreifer.

Er spürte, wie das Kind sich neben ihm verkrampfte, und legte ihr unwillkürlich eine Hand auf die Schulter.

Eine der Wachen versetzte dem Gefangenen einen harten Stoß, der den Mann in die Knie zwang. „Berichte unserem Khán-an, was du uns soeben erzählt hast.“

Der Gefangene grinste. „Es war der Uluwayt-Clan, der uns angeheuert hat!“, erklärte er mit kratziger Stimme, „Sie wollten, dass wir den Bruder des Khán-an aus dem Weg räumen!“

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