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Nicht Ihr Vater – Teil 3

Rhea beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie Rufe nach Vergeltung durch den Raum schallten.

Das war furchtbar!

Wenn das so weiterging, würden sie wieder kämpfen!

Sie warf einen Blick auf den gefangenen Mann, der zu Khán-an Myrats Füßen kniete. Sie hatte seine Stimme erkannt. Er war einer der Männer, die Khán Thorwen gesucht hatten.

Aber warum hatte er das gesagt?

So etwas würde Khán-an Kayron auf keinen Fall tun!

Der Gefangene drehte leicht den Kopf und Rhea sah etwas an seinem Hals aufblitzen, ehe es wieder von dem schmutzigen und zerrissenen Halstuch verdeckt wurde.

Ein Brandmal?

Sie kniff die Augen zusammen und überlegte, woher sie das Zeichen kannte.

Mit einem Schlag wurde es ihr klar, und sie zupfte energisch an Khán Thorwens Ärmel.

„Khán Myrat! Er lügt!“

Khán Thorwen durchbohrte sie mit einem stechenden Blick. Er hatte sie nicht mehr so kalt angesehen, seit er ihr die Klinge an die Kehle gesetzt hatte, und sie erkannte mit Schrecken, dass er den Worten des Mannes Glauben schenkte.

Das konnte sie nicht zulassen.

Sie musste ihn dazu bringen, ihr zu glauben.

Sie versuchte es erneut.

„Das war nicht mein Clan. Bitte, Khán Myrat.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während der Mann sie musterte. Rhea war sich sicher, dass sie verzweifelt aussah, aber das hier war wichtig. „Bitte! Ich kann es beweisen!“

Er wandte sich ab und Rheas Herz sank.

Er würde nicht zuhören.

Natürlich würde er das nicht.

Wer würde ihr schon glauben?

Sie war eine Uluwayt.

Ein Feind.

Und Feinden hörte man nicht zu.

Die Flammen des Krieges würden wieder lodern – und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

„Ruhe.“ Khán Thorwens Befehl übertönte die wütenden Schreie mit Leichtigkeit. Es war nur ein einziges Wort, doch es war wirkungsvoll genug, um die Menge zum Schweigen zu bringen.

Eine angespannte Stille legte sich über den Raum, während Khán Thorwen sich an seinen Bruder wandte. „Bruder, das Kind hat etwas zu sagen.“

Rheas Herz machte einen Sprung und zitterte gleichzeitig.

Khán Thorwen hatte ihr Flehen nicht ignoriert.

Er hatte ihr tatsächlich zugehört.

Doch jetzt wollte er, dass sie sich erklärte. Vor einer Gruppe feindseliger Myrat.

Sie schluckte.

„Eine Uluwayt?!“

„Was macht sie hier?!“

„Spielt das eine Rolle? Tötet sie einfach!“

Rhea zuckte zusammen, und Khán Thorwen fasste sie fester bei der Schulter. Er stand jetzt so dicht bei ihr, dass sie die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Es war beruhigend und furchterregend zugleich.

Mit einem Mal spürte Rhea, wie eine gewaltige Energiewoge über sie hinwegfegte. Sie war stark, dominant und erdrückend.

Sie fröstelte und war nun sehr froh über Khán Thorwens ruhige Präsenz. Der Mann war so unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Stark und unverwüstlich im Angesicht der ungeheuren Kraft seines Bruders, die Rhea schier den Atem nahm.

Helion Myrat hob die Hand und fixierte seine scharfzüngigen Clanmitglieder mit zusammengekniffenen Augen. „Dieses Kind rettete meinen Bruder. Sie verdient das Recht, gehört zu werden.“

Seine Stimme war hart und trug einen Ausdruck von kompromissloser, unerbittlicher Stärke in sich.

Keiner wagte es, ihm zu widersprechen.

Der energetische Druck verringerte sich, schwand aber nicht völlig, vielmehr umgab er ihn wie ein schlummernder Drache, der bereit war, jeden Moment zu erwachen.

Rhea wich instinktiv zurück, als sich sein Blick auf sie richtete, aber Khán Thorwens Hand lag immer noch fest auf ihrer Schulter und sie kollidierte mit seiner Brust.

„Was hast du zu sagen, Mädchen?“

Rhea schluckte und ihre Stimme stockte leicht, als sie zu sprechen begann. „Vor drei Monden gab es einen Angriff auf einige Uluwayt … wir konnten einen der Angreifer festnehmen. Er sagte …“, sie zögerte, „…, dass er von … von Eurem Clan geschickt worden sei, Khán-an Myrat.“

In der Menge brach Empörung aus, und Helion Myrat ließ seine Aura erneut aufflackern. Es war nur ein kurzer Impuls, aber effektiv genug, um die Ordnung wiederherzustellen. „Fahr fort, Kind“, verlangte er mit ernster Stimme, und Rhea spürte, wie sich seine ganze Aufmerksamkeit auf sie richtete.

Rhea leckte sich nervös über ihre trockenen Lippen. Ihre Kehle fühlte sich rau an. „… da befahl Khan-an Kayron einen Angriff, um die Leute zu rächen, die wir verloren haben …“

„Der Überfall auf den Außenposten“, kommentierte Khán Thorwen grimmig.

Rhea nickte zaghaft. „Der Mann, den wir gefangen genommen haben … er hatte ein Zeichen auf seinem Schlüsselbein. Es ist dasselbe, das dieser Mann unter seinem Schal verbirgt. Ich habe es gerade gesehen.“

Sie zeigte auf den knienden Mann.

Ihre Schulter fühlte sich plötzlich kalt an, als Khán Thorwen die Hand entfernte und auf den Gefangenen zuging, um das ausgefranste Tuch von seinem Hals zu reißen.

In der Stille, die entstand, während alle das Brandmal anstarrten, konnte Rhea ihr eigenes Herz schlagen hören.

Dann durchschnitt Khán-an Helions Stimme die Stille; hart und scharf, wie polierter Stahl. „Sperrt ihn weg. Sorgt dafür, dass er nicht entkommen kann. Wir müssen dieser Sache auf den Grund gehen, bevor wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“

„Khán-an! Ihr könnt diesem Kind doch keinen Glauben schenken!“, schnappte eine alte Frau und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse größter Missbilligung. „Sie ist eine Uluwayt! Man kann ihr nicht trauen!“

Khán-an Helion bedachte die protestierende Frau mit einem ruhigen Blick. „Eure Meinung über die Integrität des Uluwayt-Clans ist mir durchaus bewusst. Aber in diesem Fall können wir nicht zulassen, dass unser Urteilsvermögen durch persönliche Interessen getrübt wird. Wir werden diese Vorwürfe sorgfältig prüfen, bevor wir den prekären Waffenstillstand mit dem Uluwayt-Clan grundlos brechen.“

Die Frau schnaubte.

Khán-an Helions Hand legte sich auf Rheas Schulter. Schwer und endgültig. „Jetzt lasst uns allein.“

Die Tür schloss sich hinter ihnen und Helion wandte sich an Thorwen. „Dieses Brandmal. Du hast es auch erkannt, oder?” Seine Stimme war ernst.

Thorwen nickte mit finsterem Blick. „Allerdings. Das war das Zeichen des Ruwa Clans.”

Rhea sah sich plötzlich wieder den prüfenden Blicken der beiden Myrat-Geschwister ausgesetzt. „Kind.”

Rhea warf dem älteren Myrat-Bruder einen nervösen Blick zu. „Ja, Khán-an Myrat?”

Khán-an Helion lehnte sich vor und musterte sie mit einem eindringlichen Blick. „Erzähle uns alles, was du über den Angriff auf deine Sippe weißt. Lass nichts aus, auch wenn es noch so unwichtig erscheint.”

In seiner Stimme schwang immer noch Autorität mit, und obwohl er ihr in keiner Weise gedroht hatte, wusste Rhea, dass er eine Antwort von ihr erwartete.

Sie zupfte nervös an ihrem Ärmel herum. „Ich weiß nicht viel. Ich hatte Waschdienst, als drei der Wachen einen Mann hereinbrachten. Er trug schwere Stiefel und eine seltsame Kette, die klirrte, wenn er ging. Sein Hemd war am Kragen zerrissen, und auf seinem Hals sah ich dieses seltsame dreieckige Brandmal. Die Wachen brachten ihn zu Khán-an Kayron, und kurz darauf sprachen alle davon, dass der Myrat-Clan sich mit Ruwa verbündet hätte, um einen Anschlag auf uns zu verüben. Khán-an Kayron war wütend, und viele unserer Leute verlangten, zurückzuschlagen … also … taten sie das … Das ist alles, was ich weiß.“

Sie biss sich unruhig auf die Lippe und wartete nervös auf ihre Reaktion.

Thorwen durchbrach die Stille als Erster. „Sie spielen uns gegeneinander aus.” Seine Augen funkelten mit der scharfen Intelligenz eines Strategen. 

Khán-an Helion tauschte einen kurzen Blick mit seinem Bruder. „Du meinst, sie nutzen unsere Fehde für ihre eigenen Zwecke.” Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Helion tappte einen Moment nachdenklich gegen den Türrahmen, dann zeichnete Entschlossenheit sein Gesicht. „In diesem Fall werden wir dafür sorgen, dass sie es nicht leicht haben. Ich werde umgehend Verbindung mit Kayron aufnehmen.”

Seine Miene wurde etwas weicher als er sich an Rhea wandte, die mit großen Augen zugehört hatte. „Danke, Mädchen.” 

Rhea überkam plötzlich ein mulmiges Gefühl, das sich noch verstärkte, als Khán-an Helion auf sie zutrat und seine Hand hob.

Sie kniff die Augen zusammen, in halber Erwartung, geschlagen zu werden, doch der schmerzhafte Hieb blieb aus. Stattdessen legte sich etwas Schweres und Warmes auf ihren Kopf, und sie blinzelte, als sie den sanften Ausdruck in seinem Gesicht sah. „Du wirst zu deiner Sippe zurückkehren. Bis dahin hast du mein Wort als Khán-an der Myrat, dass dir kein Leid widerfahren wird, solange du in unseren Händen bist.“

Rhea wünschte sich wirklich, sie könnte ihm glauben, aber sie wusste, wie schnell sich die Umstände ändern könnten. Sollte sich die Situation zum Schlechten wenden, dann würde sie die Erste sein, die starb.

Dennoch war diese unerwartete Güte überraschend. Khán-an Helion und Khán Thorwen mochten zwar furchteinflößend sein, aber bisher hatten sie ihr nichts angetan. 

Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, wenn sie diejenigen wären, die ihr das Leben nehmen würden. Rhea war sich sicher, sie würden sie nicht leiden lassen.

Sie schmiegte sich in die Berührung. „Ihr und Euer Bruder seid beide sehr freundlich, Khán-an Myrat. Sollte ich wirklich sterben müssen, dann hoffentlich durch eure Hand.“

Khán-an Helion erstarrte. Rhea fand, dass er irgendwie bestürzt aussah.

Sie warf einen Blick auf seinen Bruder. Khán Thorwen schien ähnlich betroffen zu sein.

Sie runzelte die Stirn. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Khán-an Myrat?“, erkundigte sie sich zaghaft, „Ist alles in Ordnung?“

Khán-an Helions Lippen lächelten sie an, aber seine Augen blickten traurig. „Ja, Kleines.“ Er streichelte ihr über den Kopf. „Es ist alles in Ordnung.“


Thorwen war überfordert und das kam nicht oft vor. Schließlich war er für seine strategischen und planerischen Fähigkeiten bekannt. Aber das Problem vor dem er stand war auch von außergewöhnlicher Natur.

Wie sollte man mit dem Kind eines Feindes umgehen, das einem in die Hände gefallen war und jetzt unter ihrem Schutz stand?

Er konnte sie weder mit nach draußen nehmen, noch konnte er sie zum Spielen wegschicken oder einen anderen damit beauftragen, sich um sie zu kümmern.

Am einfachsten wäre es natürlich, sie einzusperren, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, das Kind zur Einsamkeit zu verdammen. Die Vorstellung, dieses sanftmütige Mädchen für eine unbestimmte Zeit in irgendeinem kalten, dunklen Raum auszusetzen, missfiel ihm.

„Kannst du lesen?“, erkundigte er sich schließlich.

Das Mädchen nickte stumm.

Das war immerhin ein Anfang. Er schritt auf das Bücherregal zu und überflog die Titel. Nichts davon würde er als kindgerecht bezeichnen.

Schließlich stieß er auf ein dickes Pflanzenbestimmungsbuch und zog es heraus. Ein rasches Überfliegen bestätigte ihm, dass er es ohne Bedenken aushändigen konnte.

„Dann lies das hier.“

Kleine Hände griffen nach dem Buch, und Thorwen hielt inne, als er realisierte, dass es viel zu schwer für sie war.„Ich werde es für dich auf den Boden legen. Sei vorsichtig. Es ist schwer.“

Er legte das Buch auf den Teppich neben seinem Schreibtisch.

Thorwen kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, und für die nächsten zwei Stunden hörte man nur das leise Rascheln von Papier, als das Mädchen behutsam durch die Seiten blätterte.

Überraschenderweise genoss er die unaufdringliche Gesellschaft.

Das Buch war wirklich interessant, und die Abbildungen der Pflanzen waren hübsch anzusehen. Rhea war fasziniert von der Detailgenauigkeit.

„Mädchen“, riss Khán Thorwens Stimme sie aus ihrer Bewunderung, „Weißt du, wie man einen Tuschestein reibt?“

Rhea hob ihren Kopf. „Ja, Khán Myrat. Wollt Ihr, dass ich Euch helfe?“

Khán Thorwen neigte den Kopf. „Wenn du so nett wärst.“

Rhea schloss vorsichtig das Buch und stand auf.

Der Tuschestein lag auf dem Schreibtisch.

Aber er war zu hoch, als dass sie ihn hätte erreichen können.

biss sich auf die Lippe. „Ähm, Khán Myrat?“, begann sie zögernd.

„Was ist?“, erkundigte sich der Mann, während er ein dickes Papier auf seinen Schreibtisch legte.

„Ich … ich komme nicht an den Stein heran. Der Schreibtisch ist zu hoch.“

Khán Thorwen hielt inne, dann wandte er den Kopf und sah sie an. Sein Blick wanderte von dem Schreibtisch, über den sie kaum hinwegsehen konnte, zu ihr und wieder zurück.

Für einen kurzen Moment flackerte so etwas wie Belustigung in seinem Blick auf, ehe er die rechte Seite seines Schreibtisches freiräumte.

Zwei Hände griffen nach ihr, und plötzlich fand sich Rhea auf dem Schreibtisch wieder. „Das sollte das Problem lösen“, kommentierte er schlicht.

Rhea lächelte leicht, als sie den Tintenstein ergriff. „Ja, Khán Myrat.“

Thorwen hatte gerade seinen Brief beendet, als er spürte, wie sich die Signatur seines Bruders der Tür näherte. „Herein.“

Helion verlor keine Zeit und trat ein. Seine Aufmerksamkeit fiel sofort auf die ungewöhnliche Szene, die sich vor ihm abspielte.

Thorwen übersah geflissentlich die zuckenden Lippen und das vergnügte Funkeln in den Augen seines Bruders. Für einen Moment verwandelte sich der amüsierte Ausdruck in Helions Gesicht in Zuneigung.

Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Ich habe Kayron informiert. Nun können wir nur hoffen, dass er antwortet.“

„Das wird er“, dessen war sich Thorwen sicher. Es ging schließlich um ein Kind seiner Sippe. Da würde er es dem unberechenbaren Uluwayt-Oberhaupt sogar zutrauen, Helions Schreiben mit einem persönlichen Besuch zu beantworten. „Hast du den Wachen mitgeteilt, dass sie nicht schießen sollen, falls Kayron sich entschließt, hier aufzutauchen?“

Helion warf ihm einen leicht amüsierten Blick zu. „In der Tat habe ich sie vorgewarnt. Sie werden nach mir schicken und keine … überstürzten Entscheidungen treffen.”

„Gut.“ Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Scharmützel auf ihrem Gelände.

„Allerdings.“ Thorwen bemerkte, dass Helion zu seinem Schreibtisch blickte.

Er folgte seinem Blick und sah, wie sich das Mädchen über die Tischplatte beugte und versuchte, den zu Boden gefallenen Pinsel aufzuheben. Sie wankte dabei bedrohlich. Thorwen verspürte einen überraschenden Anflug von Sorge.

Rasch schritt er zu ihr herüber, packte sie am Kragen ihres Hemdes und hob sie hoch, bis ihre Augen auf gleicher Höhe mit den Seinen waren und sie seinem strengen und unbeeindruckten Blick ausgesetzt war. „Was, denkst du, tust du da?“

Das Kind wich seinem Blick aus. „Ich … wollte nur den Pinsel aufheben.“

Thorwen verengte seine Augen. „Und da hieltst du es für ratsam, dich auf den Bauch zu legen und dich mit dem Gesicht nach unten über den Tisch zu lehnen?“

Sie zuckte zusammen und senkte den Kopf.

Thorwen ergriff ihr Kinn und neigte es wieder nach oben, sodass sie die Missbilligung in seinem Gesicht sehen konnte. „Das war eine sehr törichte Idee. Du hättest dich ernsthaft verletzen können. Was glaubst du, wie dein Clanoberhaupt reagieren würde, solltest du in unserer Obhut Verletzungen davontragen?“

Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. „Ich … es tut mir leid, Khán Myrat. Soweit habe ich nicht gedacht.“

„Offensichtlich.“

Helion legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, sie ist sich ihres Fehlers bewusst, Bruder. Habe ich recht, Kleines?“

„Ja, Khán-an Myrat“, antwortete sie leise, „ich werde vorsichtiger sein.“

„Gut“, Thorwen gab ihr Kinn frei und setzte sie behutsam wieder zu Boden.

Er seufzte stumm, als sie ihren Blicken auswich. Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, sie abermals zu verängstigen.

Thorwen legte eine Hand auf den demütig gesenkten Kopf. „Du bist voller Tintenflecken. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du ein Bad nimmst.“

Sie nickte leicht gegen seine Handfläche.

Helion sah ihn auf eine recht eindeutige Weise an. Thorwen neigte den Kopf, als er die Intention hinter dem Blick erkannte. Er wusste, was das Funkeln in den Augen seines Bruders bedeutete. Helion glaubte, Thorwen würde etwas belasten und wollte mit ihm darüber reden.

Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Weg gab, sich davor zu drücken. Helion würde nicht aufhören, ihn zu bedrängen, bis sie den Grund für Thorwens derzeitigen Gemütszustand nicht in aller Ausführlichkeit erörtert hatten.


„Du hast dir Sorgen gemacht.“

Thorwen sah seinen Bruder stirnrunzelnd an. „Wovon redest du?“

Helion verschränkte die Finger und stützte sein Kinn auf die gekreuzten Hände. „Ich konnte deine Besorgnis sehen, als sie beinahe vom Tisch gestürzt wäre. Leugne es nicht. Ich kenne dich, kleiner Bruder. Für alle anderen magst du ein verschlossenes Buch sein, doch ich kenne dich ganz genau. Außerdem verriet dich die beruhigende Geste im Anschluss an deinen Tadel.“

Thorwen seufzte. „Was soll ich deiner Meinung nach tun, Bruder? Es scheint mir, als ginge ich eine Bindung mit jemandem ein, den ich möglicherweise töten muss, und dennoch kann ich mich nicht dazu bringen, sie zu misshandeln.“

Helions Miene wurde sanft. „Du machst dir schon wieder zu viele Gedanken, Thor.“ Der vertraute Spitzname ließ Thorwen aufhorchen. Sein Bruder hatte seinen Namen schon sehr lange nicht mehr abgekürzt.

„Du bist nicht unser Vater. Tappe nicht in die Falle seiner toxischen Lehren. Es ist nicht falsch, Güte und Mitgefühl zu zeigen. Wir können nicht wählen, in welche Familie wir hineingeboren werden – und so wie wir nicht für die Sünden unseres Vaters verantwortlich sind, ist dieses Kind nicht für die Sünden derer verantwortlich, die vor ihr kamen – und doch zahlt sie in diesem Moment für die Fehler der Älteren. Willst du sie wirklich weiter für etwas strafen, das nicht in ihrer Verantwortung liegt? Willst du unser Vater werden?“

Thorwen erstarrte. „Nein“, stieß er schließlich hervor. Das wollte er nicht. „Niemals wie er.“

Helion lächelte. „Gut, denn du, kleiner Bruder, bist ein viel besserer Mann, als er es je hätte sein können. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen in dich – und ich bin stolz darauf, dich meinen Bruder nennen zu dürfen.“

Thorwen war sprachlos, und er spürte, wie seine Ohren leicht heiß wurden. Er hüstelte. „Danke … Hel. Ich liebe dich auch.“

Sein Bruder grinste so breit, dass er selbst den Himmel hätte erhellen können.

Ihr gemeinsamer Moment wurde durch dreimaliges lautes Klopfen unterbrochen.

„Khán Thorwen?“, rief eine Stimme vor der Tür. „Seid Ihr da? Es gab einen Zwischenfall mit Eurem Schützling im Badehaus.“

Thorwen reagierte im selben Moment wie sein Bruder.

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