Fantasy,  Geschichten

Nicht Ihr Vater – Teil 4

Die Krieger, die die Tür blockierten, entfernten sich augenblicklich, als sie ihr Clanoberhaupt und seinen Bruder eintreffen sahen.

Thorwen schritt an ihnen vorbei und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Seine Augen wanderten von einer feindselig dreinblickenden älteren Frau zu zwei Myrat Kriegern, über eine dampfende Badewanne und blieben schließlich an einer Wache hängen, die ein leise wimmerndes Kind in den Armen hielt, das nur in ein Handtuch gewickelt war.

Seine Augen verengten sich gefährlich, als er die verbrühte Haut des Kindes sah, und er spürte eine Welle kalter Wut in seinen Adern.

Er öffnete den Mund, um eine Erklärung zu fordern, hielt aber inne, als die Luft plötzlich drückend wurde und sich Helions Aura wie eine bedrohliche, erdrückende Decke über dem Raum ausbreitete.

Thorwen beobachtete mit Genugtuung, wie die alte Frau und die beiden Männer angesichts der schieren Wildheit dieser Kraft erbleichten.

„Was ist passiert?“ Die Stimme seines Bruders war trügerisch sanft, doch die geballte Macht, die ihn umgab, täuschte über seine Ruhe hinweg.

„Diese Göre ist schuld!“, kreischte die Frau. „Sie wollte nicht baden, obwohl Khán Thorwen mir befohlen hatte, ihr beim Waschen zu helfen! Sie hat sich so sehr gewehrt, dass ich die Wachen zu Hilfe rufen musste!“

Das Mädchen zitterte in den Armen des Klons. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. Ihre Stimme war schmerzerfüllt, „Aber das Wasser … es brennt.“

Thorwen spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. „Lasst mich das rekapitulieren“, begann er, gefährlich ruhig. „Ihr habt eine Wanne mit siedend heißem Wasser gefüllt und wollten, dass das Kind hineinsteigt. Als sie sich verständlicherweise dieser törichten Anweisung widersetzte, haben Sie versucht, sie mit Gewalt hineinzuzwingen.“

„Sie wehrte sich zu Recht“, fuhr Helion fort, „und Ihr hattet nichts Besseres zu tun, als die Wachen zu rufen, die unter dem Vorwand, dass sie sich den Befehlen meines Bruders widersetze, eifrig dabei halfen, ein wehrloses Mädchen in ein Becken mit brühend heißem Wasser zu stoßen. Ist das richtig?“ Die letzte Frage stellte er mit einer scharfen, schneidenden Freundlichkeit, die nur eines bedeuten konnte.

Helion war außer sich vor Wut.

Ein ungewöhnlicher Anblick, denn sein älterer Bruder war normalerweise nicht leicht zu verärgern, aber es gab ein paar Dinge, die Helions Zorn erregten. Grundlose Gewalt gegenüber Kindern war eines dieser Dinge. Grundlose Gewalt gegenüber Kindern, die unter seinem Schutz standen, war noch schlimmer.

Sein Bruder hatte sein Wort gegeben, sie vor Leid zu bewahren, und dennoch hatte sie durch Helions eigene Sippe schwerste Verletzungen erlitten.

„Ich hörte einen Tumult und intervenierte“, ergänzte die Wache, die das Kind hielt, und neigte den Kopf in Richtung der beiden Wachen.

„Gute Arbeit, Eren.“ Thorwen durchquerte den Raum, um das Kind in Empfang zu nehmen.

Eren reichte sie ihm vorsichtig, und sie zitterte leicht, als sie sich in seinen Armen zusammenrollte und ihre Wange gegen seine Brust schmiegte. „Khán Myrat … es … tut mir … leid.“

Thorwen verengte seine Augen beim Anblick der großflächigen Verbrennungen, die ihren dünnen Arm und den oberen Teil ihres Oberkörpers bedeckten, und presste sie instinktiv fester gegen seine Brust. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, mein Kind“, erwiderte er mit fester Stimme und kehrte an die Seite seines Bruders zurück. „Du hast nichts falsch gemacht.“

Helion bedachte die drei Übeltäter mit einem harten Blick. „Ich bin zutiefst enttäuscht. Ihr seid Teil meiner Sippe. Erwachsene, und dennoch habt ihr zugelassen, dass eure persönlichen Empfindungen euer Urteilsvermögen trüben, und eure Wut an einem wehrlosen Kind ausgelassen. Eure Handlungen waren unehrenhaft, und Ihr habt Schande über euren Clan und mich gebracht, indem Ihr ein Kind angegriffen habt, das unter meinem persönlichen Schutz steht. Das wird für euch alle ernsthafte Konsequenzen haben. Wachen, sperrt sie weg.“

„Khán-an!“, beschwor die alte Frau, als Eren sie abführte, „ich flehe Euch an -“

Sein Bruder ignorierte sie und wandte sich der Tür zu. „Komm, Bruder, unser Schützling benötigt Heilung.“


Wäre die Ursache nicht so gravierend gewesen, so hätte Helion sich über Thorwens Fürsorglichkeit amüsiert. So aber erlaubte er sich nur ein schwaches Lächeln, als sein Bruder das Kind behutsam von seiner Brust löste und auf einer hastig herbeigebrachten Strohmatte ablegte.

Helion beugte sich vor, um das Ausmaß der Verbrühungen in Augenschein zu nehmen, und runzelte besorgt die Stirn, als sie zurückzuckte. Ein gequältes Wimmern entwich ihren Lippen, als die Bewegung ihre Schmerzen nur noch verschlimmerte.

Thorwen legte seine Hand resolut auf die unverletzte Schulter und hielt sie fest, um zu verhindern, dass sie sich weiterbewegte. Helion sah, wie sein Bruder beruhigend die schmale Schulter drückte.

„Kleines“, begann er und griff nach einem der Heilkristalle. „Ich werde jetzt damit beginnen, dich zu heilen. Versuche, dich zu beruhigen. Du bist jetzt in Sicherheit, Rhea.“

Das Mädchen riss die Augen auf, als er so unerwartet ihren Namen nannte. Helion begegnete ihrem überraschten Blick mit einem leichten Lächeln.

Neben ihm richtete sich Thorwen auf. Ein Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit lag auf seinem Gesicht.

Für eine Weile herrschte Stille und der kleine Körper entspannte sich langsam.

„Es tut mir leid“, murmelte sie unerwartet.

Helion hob eine Augenbraue. „Wovon sprichst du?“, erkundigte er sich, ohne seinen Blick von ihren Armen abzuwenden.

Sie drehte ihren Kopf und ihre Wange streifte den Handrücken seines Bruders. Seine Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. „Ich habe eine Eurer Wachen gebissen …“

Thorwen schnaubte amüsiert und Helion stieß ein überraschtes Lachen aus. „Ist das so?“, fragte er leichthin, „es scheint, Bruder, wir haben eine kleine Kriegerin in unseren Händen. Ich denke, wir sollten uns umgehend ein paar Gegenmaßnahmen einfallen lassen, sonst werden auch wir einem solch heimtückischen Angriff zum Opfer fallen.“

„In der Tat“, stimmte ihm Thorwen mit ernster Miene zu, „vielleicht sollten wir unserem furchtlosen Gegner ein anderes Angriffsziel bieten. Ich schlage Honigrollen vor. Ich glaube, es wird Zeit für einen Tee, wenn du hier fertig bist.“

Helion empfand eine plötzliche Welle tiefer Zuneigung für seinen Bruder. Thorwen war ein strenger Mann, und dennoch spielte er ohne zu zögern mit, um ihre kleinen Schützling zu beruhigen. Er wusste, dass Thorwen immer wieder befürchtete, er könnte so werden wie ihr Vater, doch es waren Momente wie dieser, die bewiesen, dass er so viel mehr war.

Ihr Vater hätte sich niemals auf ein Kind des Uluwayt Clans eingelassen. Er hätte seine eigene Sippe nicht davon abgehalten, sie anzugreifen – und vor allem hätte er ihr nicht gestattet, seiner Gegenwart Trost abzugewinnen.

Ganz im Gegenteil. Sie hätte zu seinen Füßen gekauert, verängstigt und malträtiert, und der einzige Kontakt, den er zugelassen hätte, wäre ein weiterer Schlag gewesen.

Helion legte seine leuchtende Hand auf ihren Oberarm und winzige Finger umklammerten den Ärmel seines Bruders.

Thorwen protestierte nicht.

Ja, ganz und gar nicht wie ihr Vater.


Helion benötigte fast eine Stunde, um die Verbrennungen zu heilen, während das Mädchen einfach nur ruhig dalag.

Er wrang das Tuch aus und tupfte vorsichtig die Überreste der Heilsalbe ab. „So, wieder so gut wie neu.“

Rhea betrachtete ihre makellose Haut mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Tiefe Dankbarkeit leuchtete in ihren schwarzen Augen. „Ich danke Euch, Khán-an Myrat.“

„Es gibt keinen Grund, mir zu danken“, entgegnete er ernst, „Wären wir wachsamer gewesen, dann wäre dies nicht passiert. Ich gab dir mein Wort, dass dir kein Leid widerfahren würde, und dennoch ist es geschehen. Ich entschuldige mich im Namen meines Clans.“

Sie schüttelte so vehement den Kopf, dass ihr Haar flatterte. „Bitte entschuldigt Euch nicht, Khán-an Myrat. Ihr habt mich verschont. Es steht mir nicht zu, mehr von Euch zu erwarten, obwohl ich Euch und Eurem Bruder für eure Barmherzigkeit sehr dankbar bin.“

Keiner der Männer wusste, wie er darauf reagieren sollte. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, war falsch, auch wenn es sich so anfühlte. Sie war eine Gefangene, und ihr Wohlbefinden hing einzig von ihrer Gunst ab. Aber sie war auch Thorwens Wohltäterin und ein Kind unter ihrem Schutz.

„Vielleicht“, räumte Helion schließlich ein, denn ihre Worte waren zutreffend, auch wenn sie ihm persönlich nicht gefielen. „Doch mein Wort gebe ich nicht leichtfertig.“

Er sah, wie sich ihre Augen vor Schreck weiteten, und ahnte bereits, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. „Es gilt, unabhängig davon, wem ich es gebe. Daher hoffe ich, dass du meine Entschuldigung akzeptieren wirst.“

Die Anspannung fiel von ihren Schultern, als sie erkannte, dass er sie nicht missverstanden hatte, und sie nickte. „Natürlich werde ich das, Khán-an Myrat.“

Ein ironisches Lächeln huschte über Helions Züge. „Wir werden sehen. Im Augenblick ist deine Vergebung bedeutungslos. Ich werde nochmals darum bitten, wenn dein Leben nicht mehr in unseren Händen liegt und du das Bedürfnis hast, mich besänftigen zu müssen. Jetzt allerdings sollten wir dir erst einmal anständige Kleidung besorgen – und ich erinnere mich deutlich daran, dass jemand Honigrollen erwähnt hat. Ich bin am Verhungern.“

Thorwen schnaubte. „Das bist du immer, Bruder.“


Sie hatten sich gerade an zwei Tellern Honigrollen gütlich getan, als ein lautes Pochen an der Fensterscheibe ihre Teestunde unterbrach.

Drei Köpfe wandten sich um und Helions Augen leuchteten auf, als er die bunten Flügel vor der makellosen Scheibe sah. „Kayron hat geantwortet!“

Thorwen öffnete rasch das Fenster. Der Vogel flatterte hinein und stieß einen lauten, fröhlichen Piepser aus.

Helion entnahm die kleine Schriftrolle aus dem Schnabel und öffnete sie mit gespannter Erwartung.

Thorwen bemerkte nur beiläufig, dass der Vogel wieder davonflog. Er war zu beschäftigt damit, seinen Bruder zu beobachten. Oder besser gesagt, dessen erfreuten Gesichtsausdruck.

„Er möchte mit mir sprechen!“, informierte ihn Helion und er klang dabei beinahe übermütig. „In zwei Stunden! Und er hat ausdrücklich gesagt, ich zitiere: ‘Bring deinen nervigen Bruder und dieses törichte Kind mit.’

Thorwen rollte mit den Augen. „Das klingt ganz nach Kayron. Hat er denn auch gesagt, wo er sich mit uns zu treffen gedenkt? Oder erwartet er etwa, dass wir auf magische Weise seine Gedanken erraten?“

Er ignorierte Helions unbeeindruckten Blick mit geübter Leichtigkeit.

„An der Weide“, antwortete sein Bruder.

„Wunderbar“, erwiderte Thorwen trocken. „Ich kann es kaum erwarten.“


Rhea war nervös. Sie wusste, dass sie irgendwann Khán-an Kayron gegenübertreten musste, aber sie hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde.

Sie wartete in Khán Thorwens Armen, bis eine hochgewachsene Gestalt am anderen Flussufer erschien.

Khán-an Helion trat vor, um sie zu begrüßen. „Kayron.“

Rhea fand, dass sich seine Begrüßung sehr vergnügt anhörte. Sie hatte irgendwann einmal Gerüchte gehört, dass Khan-an Myrat und ihr Oberhaupt eine Vergangenheit hatten. Aber es war nie offen darüber gesprochen worden.

„Helion“, erwiderte ihr Clanoberhaupt schlicht. Seine strengen Augen richteten sich auf sie und musterten sie so eingehend, als wollte er sie auf Verletzungen überprüfen. „Ich verlange eine Erklärung. Eine Sorgfältigere als die, die du in deinem lächerlichen Brief gegeben hast.“

„Natürlich“, stimmte Khán-an Helion leichthin zu und begann dann mit einer ausführlichen Beschreibung der letzten zwei Tage.

Khán-an Kayron Gesicht wechselte von Desinteresse zu Missbilligung vermischt mit einem Hauch von Sorge. Er warf Rhea einen scharfen Blick zu, der eindeutig sagte, ‘darüber unterhalten wir uns noch.’

Rhea zuckte schuldbewusst zusammen und verbarg ihren Kopf an Khán Myrats Schulter. Doch Khán-an Kayron hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf Khán-an Helion gerichtet. „Was war das mit den Ruwa?“

Rheas Gedanken schweiften ab, als die drei Männer begannen darüber zu diskutieren, wie weiter vorzugehen war.

Sie wurde langsam müde und kuschelte sich tiefer in Khán Thorwens Arme. Sie waren angenehm warm und gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit.

Ihre Augenlider wurden plötzlich sehr schwer, und ihr Kopf sank gegen seine breite Brust.

Das Letzte, was sie hörte, war das gleichmäßige Pochen seines Herzens, bevor sie schließlich in einen tiefen Schlaf fiel.

Thorwen spürte, wie sich das Kind in seinen Armen bewegte und den Kopf gegen seine Brust lehnte.

Er hob die Hand und strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht.

Nur am Rande bekam er mit, dass sowohl Helion als auch Kayron verstummt waren. Thorwen hob den Kopf und sah, dass beide in seine Richtung starrten.

Auf Helions Lippen lag ein amüsiertes Lächeln. Kayron hatte die Arme verschränkt und das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Aber irgendwie sah er weniger grummelig aus als sonst. Thorwen war sich sicher, eine gewisse Belustigung in seinen Augen schimmern zu sehen.

Das Uluwayt Clanoberhaupt schnaubte. „Dass ich Thorwen Myrat einmal so sehe. Vielleicht ist zwischen unseren Clans doch nicht alles so verloren, wie ich glaubte.“

Helions Kopf ruckte herum. „Kayron, heißt das -“

Kayron hob eine Hand. „Nicht so vorschnell. Erst müssen wir uns um die Ruwa kümmern, danach“, er machte eine Pause und warf einen nachdenklichen Blick auf das Kind in seinen Armen. „Können wir über alles Weitere reden.“

Thorwen hob eine Augenbraue. Das war unerwartet, aber nicht unwillkommen.

Helion grinste so breit wie selten zuvor, und er sah aus, als würde er am liebsten einen Luftsprung machen.

Glücklicherweise verkniff er sich das aber.

Thorwen schüttelte den Kopf über seinen Enthusiasmus, und Kayron rieb sich die Nasenwurzel. Wahrscheinlich bereute er es schon wieder, dass er sich darauf eingelassen hatte.

Kommentieren

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Warenkorb0
Es sind keine Produkte in deinem Warenkorb!
Weiter einkaufen
0